Kinderbücher sind etwas großartiges und gleichzeitig geheimnisvolles. Ob groß oder klein, aus guten Kinderbüchern können jede Menge spannender Erkenntnisse und Lehren gezogen werden.
Von uns Erwachsenen gelesen, lassen Kinderbücher die eigenen Kindheitserinnerungen wieder zum Leben erwachen. Wir finden uns plötzlich für ein paar Stunden in die Vergangenheit zurückversetzt. Wir erinnern uns daran, was wir gerne getan haben oder sogar liebten.
Zu selten erinnern wir uns in dieser stressigen Zeit an diese Momente. Umso froher war ich, als ich die letzten Monate mal wieder Zeit fand um mich in die Welt von Tom Sawyer und Huckleberry Finn zu begeben.
Die meisten Menschen legen ihre Kindheit ab wie einen alten Hut. Sie vergessen sie wie eine Telefonnummer, die nicht mehr gilt. Ihr Leben kommt ihnen vor wie eine Dauerwurst, die sie allmählich aufessen, und was gegessen worden ist, existiert nicht mehr (…) Nun, die meisten leben so (…) Früher waren sie Kinder, dann wurden sie Erwachsene, aber was sind sie nun? Nur wer erwachsen wird und Kind bleibt, ist ein Mensch.
– Erich Kästner, Schriftsteller
Ein „Kind (zu) bleiben“ und dieses niemals abzulegen, halte ich für unglaublich wichtig. Denn das kleine Kind in uns ist ein hervorragender Indikator, ein Berater, der uns zeigt, was wir im am liebsten tun, wobei wir Spaß haben und was uns letztlich auch glücklich macht.
Als Kinder wussten wir schon sehr früh, was wir wollen. Ohne uns darüber Gedanken zu machen, sind wir in unserer Freizeit den Dingen nachgegangen, die uns richtig Spaß gemacht haben. Im Laufe der Zeit haben wir allerdings verlernt, auf unser inneres Kind zu hören.
Ich selbst dachte früher, ich würde erwachsen werden, wenn ich das kleine Kind immer mehr, Stück für Stück, aus meinem Leben dränge. Ein völliger Trugschluss, wie ich längst feststellen musste. Denn für mich ist das kleine Kind mittlerweile oft Antreiber und Motivator zugleich, um ungewöhnliche Dinge auszuprobieren, zu experimentieren, spontan zu sein. Genau das sind die Dinge, die das Leben meiner Meinung nach so sehr bereichern.
Tom Saywer, der Hauptfigur aus Mark Twains Buch Die Abenteuer des Tom Sawyers, sind diese Probleme noch ganz unbekannt. Denn er selbst ist noch ein kleiner Junge und dem Erwachsenwerden noch ganz fern. Das ebnet dem erwachsenen Leser eine tolle Möglichkeit, das Leben aus dem Blickwinkel eines Kindes zu betrachten, zu staunen und zu lernen. Im Folgenden findest du drei unterschiedlichen Erkenntnisse, die ich aus der letzten Lektüre des Buches gezogen haben und mich selbst zum weiteren Nachdenken angeregt haben.
1. Unsere Umgebung prägt unseren Horizont
Wahrscheinlich prägte nichts unseren Horizont mehr, als die Umgebung, in der wir aufgewachsen sind.
Im Buch zeigt sich das beispielhaft, als Tom und Finn sich über das Heilen von Warzen austauschen. Dabei bringt jeder seine eigenen „Methoden“ ein, die er gehört und aus seiner Umgebung mitbekommen hatte:
Weißt du, du nimmst die Katze und gehst auf den Kirchhof gegen Mitternacht, dahin, wo ein Gottloser begraben ist. Wenn’s dann Mitternacht ist, kommt ein Teufel – oder auch zwei oder drei – du kannst ihn aber nicht sehen, sondern hörst nur so was wie den Wind, oder hörst ihn sprechen. Und wenn sie dann den Kerl fortschleppen, wirfst du die Katze hinterher und rufst: „Teufel hinterm Leichnam her, Katze hinterm Teufel her, Warze hinter der Katze her – Seh‘ euch alle drei nicht mehr! Das heilt jede Warze.“
„Das läßt sich hören. Hast du’s schon mal versucht, Huck?“
„Nein, aber die alte Hopkins hat’s mir erzählt.“
Je nachdem in welcher Umgebung und in welchen sozialen Kreisen wir aufwachsen, nehmen wir eine bestimmte „Wahrheit“ an oder nicht. Auf diesen persönlichen Wahrheiten baut sich anschließend jede unserer Entscheidungen auf, weshalb unser Leben maßgeblich dadurch beeinflusst und gelenkt wird.
Es ist eine Kunst unsere eigenen Wahrheiten ständig zu hinterfragen. Wurde dir beispielsweise von deinem Umfeld vermittelt, dass das Bauen eines Eigenheims ein entscheidender Faktor für persönlichen Erfolg ist, dann solltest du das nicht einfach hinnehmen. Denn diese Wahrheit muss nicht zwangsläufig die deine sein.
Denke mal genau darüber nach: Vielleicht definierst du „Erfolg“ ja völlig anders und materielle Dinge haben einen viel geringeren Stellenwert in deiner persönlichen Glücks- und Erfolgshyphothese? Vielleicht bist du ein Mensch, der seine finanzielle Unabhängigkeit behalten will um weiterhin flexibel zu sein? Vielleicht willst du lieber die Welt bereisen und neue Dinge sehen anstatt ein Haus zu bauen?
2. Das wunderbare passiert genau jetzt! Nicht gestern, und auch nicht morgen.
Eines Tages, als sich Tom mit (s)einem Mädchen streitet, beschließt er wütend und enttäuscht seine Heimatdorf für immer zu verlassen. So machen das Kinder wohl manchmal; völlig unbeschwert und unüberlegt zu beschließen, das Leben jetzt in eigene Hände zu nehmen.
Mit Joe und Huckleberry Finn fand Tom auch gleich zwei Mitstreiter, die sich seiner Idee anschließen. Ausgestattet mit Proviant und dem nötigen Material, verlassen die drei Jungs eines Nachts die Stadt und lassen sich auf der nahegelegenen Insel mit dem Namen Jackson-Island nieder.
Als Tom (eines) morgens erwachte, war er sehr erstaunt über seine Umgebung. Er setzte sich auf, rieb sich die Augen und schaute um sich; dann begriff er. Es herrschte kühle, graue Dämmerung und ein wundervoller Hauch von Ruhe und Frieden in der tiefen, alles durchdringenden Stille und Lautlosigkeit des Waldes. Nicht ein Blatt rührte sich, nicht ein Laut störte das große Nachdenken der Natur. Tautropfen lagen auf Blättern und Gräsern. (…)
Jetzt plötzlich begann ein Vogel im Innern des Waldes zu singen; andere antworteten; dann machte sich das Hämmern eines Spechtes hörbar. Allmählich erhellte sich der kühltrübe Grauton des Morgens, und ebenso allmählich vermehrten sich die Stimmen, und das Leben nahm zu. Alle Wunder der den Schlaf abschüttelnden und an die Arbeit gehenden Natur entfalteten sich vor dem staunenden Knaben.
Dieser Ausschnitt bringt sehr schön nahe, wie wunderbar doch das hier und jetzt ist, der Moment, dem oftmals viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Diesen Moment, die Gegenwart, mit all unseren Sinnen wahrzunehmen, sehe ich für mich persönlich immer wieder als echte Herausforderung. Zu viel zu tun, zu viel Ablenkung und eigentlich immer am rennen!
Viel zu oft denke ich an die Zukunft, an die volle To-Do-Liste oder die Vergangenheit. Mit allen den Gefühlen, die mit diesen Gedanken einhergehen: Unsicherheit, Ungewissheit und vielleicht sogar Angst.
Doch liegt nicht das Schöne oftmals direkt vor den eigenen Augen? Lasst uns in Zukunft öfter innehalten um die Schönheit dieser Welt in allen ihren Facetten zu genießen. Lasst uns kurz abschalten vom Alltag, eine kurze Pause machen und dabei unseren Gedanken freien Lauf lassen.
3. Man will immer das, was man nicht hat
Zurück zu Jackson-Island: Joe, einer der zwei Jungs die Tom begleiteten, wurde es immer verboten zu schwimmen. In dieser Zeit fand Joe nichts besser als Schwimmen zu gehen und es machte ihm richtig Spaß. Nach der Flucht auf die Insel war plötzlich niemand mehr da, der ihm das Schwimmen hätte verbieten können. Daraufhin stellte er entgeistert fest:
Schwimmen ist nichts. Ich hab‘ gar keine Lust zum Schwimmen, wenn nicht wer da ist, der mir sagt, ich soll’s nicht tun.
Es ist schon kurios: Solange einem etwas verboten wird, solange will man es machen. Sobald man es allerdings machen darf, sinkt urplötzlich das Interesse daran. Folglich will man also immer das, was man nicht hat.
Diese Erkenntnis ist nicht unbedingt neu, allerdings für mich weit mehr verständlich, wenn ich mich an meine Kindheit zurückerinnere. Auch als Erwachsener trifft diese Aussage noch vollumfänglich zu, man will es allerdings nicht mehr wahrhaben. Man versucht sich der Realität zu entziehen, weil man denkt, dass man als Erwachsener über diese kleinen „Kindheitskrankheiten“ hinausgewachsen ist.
Ein Beispiel gefällig? Hat man keine Locken, dann wünscht man sich welche. Hat man jedoch welche, dann verbringt man Stunden damit die Haare zu glätten. Ist man Single, schielt man neidisch auf die glücklichen Paare. Ist man in einer Beziehung, denkt man manchmal wehmütig an die alten Partys und Freiheiten zurück.
Mit Blick auf mich selbst, finde ich dieses Muster im eigenen Leben immer wieder.
Ein Zauberrezept um damit umzugehen? Habe ich bisher noch nicht gefunden. Was mir aber häufig hilft ist das alleinige erkennen dieses „Musters“. Denn dann habe ich das Gefühl, etwas Kontrolle über die Situation zurückgewonnen zu haben, was mir dabei hilft, mit der Situation besser und vielleicht souveräner umzugehen.
Apropos souverän umzugehen: Wann hast du zuletzt ein Kinderbuch gelesen und dich mit (erwachsenen) Freunden darüber ausgetauscht?
[…] Im Geiste jung zu bleiben hat viele Vorteile. Einige davon finden sich im Meisterwerk Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Andere lernt man, wenn man spielt oder eben wenn man […]