Dies ist ein Gastartikel von Sebastian Herbst
Vielleicht kennt ihr sie auch: diese Sätze, die jemand zu euch sagt, und die euer Leben dann enorm verändern. Manchmal entfalten solche „magischen“ Aussagen ihre Wirkung sofort, nicht selten brauchen sie aber eine ganze Zeit, um zu reifen.
Letzteres war bei mir im frühen Sommer 2010 der Fall, als ich mich im Fitnesstudio mit einem Mann um die 40 unterhielt, den ich bis heute nur unter seinem Spitznamen „Rucki“ kenne. Rucki war ein Pumper der alten Schule: ausgewaschenes Stringer-Tanktop, kurze GASP-Cargohose, immerzu in seinem rechten Mundwinkel deutlich sichtbar kaugummikauend.
Ich erzählte Rucki von meiner Fächerwahl für das Abitur und auch, dass ich wegen des Theorieteils gerne in Sport Abitur gemacht hätte. Denn aufgrund meiner Fitnessbegeisterung hatte ich mir zu diesem Zeitpunkt schon einen Großteil des Abiturwissens zu Trainingslehre, Stoffwechsel und Ernährung angeeignet.
Leider bedeutete Sportabitur aber neben Theorie auch einen Praxisteil, wobei beide jeweils zu 50% in die Endnote einflossen. Und während ich zwar an den Hantelstangen einigermaßen fit war, so wurden im Praxisteil eben all jene Sportarten bewertet, für die ich quasi eine “natürliche Unbegabung” hatte: Dauerlauf, Sprint, Weitsprung – Leichtathletik vom Feinsten.
Rucki hörte sich meine Geschichte an, schaute mich dann irgendwann schulterzuckend an und sagte nur „Kannste doch alles trainieren.“
Kannste doch alles trainieren
Kannste doch alles trainieren!
– Rucki, Pumper der alten Schule
Damals wusste ich noch nicht, was für magische Worte ich da gerade gehört hatte, Sie kamen auch leider zu spät, denn meine Fächerwahl konnte ich zu dem Zeitpunkt ohnehin nicht mehr ändern. Ruckis Worte kamen mir jedoch ein paar Jahre später wieder in den Sinn als ich alles Revue passieren lassen habe.
Für mich stand damals bei der Abiturwahl fest: Ich bin (aktuell) kein guter Leichtathlet, und deshalb werde ich auch eine schlechte Leichtathletiknote bekommen. Meine unzureichende Leistungsfähigkeit in Leichtathletik war für mich quasi unveränderlich, sozusagen „fixed“, fest verankert. Ich sah gar nicht die Möglichkeit, etwas daran zu verändern. Dabei hatte ich damals noch etwa vier Monate Zeit bis zum neuen Schuljahr, wahrscheinlich mindestens fünf Monate bis zur ersten Notenerhebung, und die Noten wurden darüber hinaus über einen Zeitraum von vier Semestern erbracht.
Hätte ich damals direkt nach der Fächerwahl mit einem strukturierten Trainingsplan für Leichtathletik begonnen, ich hätte mir in vier Monaten eine ganz passable Basis aufbauen können und bei konstantem Training spätestens im dritten oder vierten Semester sicherlich Noten im oberen Bereich eingefahren.
Klar, in den reinen Theoriefächern, die ich stattdessen gewählt habe, war ich sehr wahrscheinlich trotzdem besser. Und klar, man muss erst einmal die Motivation aufbringen, über Monate Sportarten zu trainieren, bei denen man bei 0 anfängt. Und das auch noch in der Oberstufe, mit den unheilvoll am Horizont erscheinenden Abiturprüfungen.
Um was es mir aber geht: Ich habe damals noch nicht einmal diese Erwägungen angestellt. Ich nahm den Zustand, schlecht in Leichtathletik zu sein, einfach als gegeben hin und dachte in keiner Sekunde darüber nach, dass ich ja durch Vorbereitung und Training etwas verändern könnte.
Und ich glaube, so geht es vielen Menschen. Sie fixieren sich auf den status quo und nicht auf das, was sie durch Training respektive Übung erlernen oder erreichen könnten. Dabei können wir uns in jeglicher Hinsicht enorm steigern.
Was uns hindert, unser Potenzial auszuschöpfen: das „fixed mindset“
Wir werden allerdings schon von klein an darauf gepolt, nicht auf dynamische Entwicklungen zu schauen, sondern auf fixe Werte. In Bayern, wo ich zur Schule ging, werden zum Beispiel im Zeugnis der 1. Klasse und im Zwischenzeugnis der 2. Klasse keine Noten verteilt. Stattdessen wird in einem einseitigen Fließtext das Sozial-, Lern- und Arbeitsverhalten des Kindes beurteilt. Eine gute Sache, denn hier kann der Lehrer Kind und Eltern individuell und abseits der Fächereinteilung mitteilen, wo Nachbesserungsbedarf besteht und wo sich das Kind wie entwickelt hat.
Bereits ab dem Jahreszeugnis der 2. Klasse jedoch schrumpft dieser Text auf einen kleinen Mehrzeiler, der Großteil des Zeugnisses besteht aus Noten. Ab hier steht damit nicht mehr der individuelle Fortschritt des Kindes im Vordergrund, sondern einzig die erbrachte Leistung, gemessen an “Noten”.
Natürlich kann man anhand der Noten natürlich auch einen Entwicklungsprozess der Leistung nachvollziehen, aber das Zeugnis gibt einem wenig Auskunft darüber, wie die eigene – die persönliche – Lernentwicklung verlaufen ist.
Wenn zum Beispiel ein von Natur aus intelligenter Schüler spielend leicht die 2 in Mathe erreicht, ohne sonderlich viel dafür getan zu haben, dann weiß er zum einen nicht, woher die Note kommt, und zum anderen wird er nie wirklich das Lernen lernen. Rückt man dann in Stoffgebiete vor, die sich dieser Schüler nicht mehr so spielend leicht erschließen kann, so besteht die Gefahr, dass er/sie plötzlich an seinen Fähigkeiten zweifelt und zugleich Schwierigkeiten haben wird, sich den neuen Stoff irgendwie anzueignen.
Ein anderer Schüler, der von Natur aus eher ein 4er-Kandidat in Mathe ist, schafft es dagegen durch viel Fleiß und Nachhilfe ebenfalls auf eine 2 zu kommen. Dieser beachtliche relative Erfolg wird aus seiner Sicht aber dadurch gemindert, dass ja auch der intelligente Schüler die 2 geschafft hat, und das sogar ohne ersichtliche Mühen.
Das absolute Notensystem allein gibt auch kein Feedback zu dem löblichen Aufwand, den der zweite Schüler in das Lernen investiert hat. Das mag in Anbetracht des späteren Arbeitslebens vielleicht auf den ersten Blick einigermaßen logisch erscheinen, denn hier interessiert es zunächst den Arbeitgeber ja auch weniger, ob wir uns von einer akzeptablen Leistung im Vorjahr auf eine gute Leistung im aktuellen Jahr steigern, sondern vielmehr, wie es ganz objektiv um unsere Leistungsfähigkeit bestellt ist. Ich glaube aber, dass wir durch diese pauschale Betrachtungsweise in so jungen Jahren bei vielen Kindern die Entwicklung enormen Potenzials be- und verhindern.
Und mit dieser Sichtweise bin ich nicht allein. So spricht auch Carol Dweck, Psychologieprofessorin in Stanford, in ihrem TED-Talk „The power of believing that you can improve“ genau diese Thematik an:
Dweck ist Begründerin der Theorie vom fixed and growth mindset. Menschen mit einem fixed mindset sehen demnach ihre Fähigkeiten als relativ stabil an und führen Misserfolge folglich auf ihre mehr oder weniger angeborene Unfähigkeit in dem jeweiligen Bereich zurück. Menschen mit einem growth mindset dagegen glauben daran, ihre Fähigkeiten durch stetige Übung ausbauen zu können und sehen Misserfolge demnach mehr als Hinweise auf Nachbesserungsbedarf. 1
In obigen Talk plädiert Dweck deshalb für eine Kultur, insbesondere in der Schule und der Erziehung von Kindern, in der wieder mehr Wert auf den Prozess gelegt wird, als auf das bloße Ergebnis. Die Vorteile liegen für sie auf der Hand: Kinder, die mehr Wert auf den Prozess legen, beschäftigen sich auch intensiver mit ihren Fehlern, lernen daraus und werden besser. Sie geben außerdem bei Schwierigkeiten nicht so leicht auf, während Kinder, die eher ein fixed mindset haben, bei Schwierigkeiten an ihren (aus ihrer eigenen Sicht ja wenig veränderlichen) Fähigkeiten zweifeln und schnell die Flinte ins Korn werfen.
Und auch für jeden Arbeitgeber ist ein Mitarbeiter, der bei Rückschlägen und unbekannten Problemen verbissen nach Lösungen sucht und sich neue Fähigkeiten aneignet, viel wertvoller und interessanter als einer, der nur stumpf bisher Gelerntes reproduziert und, wenn dies keinen Erfolg zeigen sollte, aufgibt.
(Un-)begrenzte Möglichkeiten mit der 10.000-Stunden-Regel
Wir müssen also als erstes erkennen, dass wir uns und unsere Fähigkeiten verbessern können. Doch wie weit geht diese Verbesserung?
Die in den Boulevardmedien immer mal wieder herumgeisternde 10.000-Stunden-Regel besagt, dass wir es mit 10.000 Stunden Übung in jedem beliebigen Bereich auf Weltklasseniveau bringen. Zugegeben, diese Aussage ist sehr reißerisch. Doch die 10.000-Stunden-Regel hat einen wahren Kern, der ursprünglich auf einen wissenschaftlichen Artikel des schwedischen Psychologen K. Anders Ericsson, gegenwärtig Professor an der Florida Stade University, zurückgeht. 2
In seiner Studie hält Ericsson im Wesentlichen fest, dass in vielen Disziplinen Spitzenleistungen nicht naturgesetzlich mit angeborenem Talent zusammenhängen, sondern über eine lange Zeit hinweg eine intensive Übung („deliberate practice“) erfordern. In der Veröffentlichung fallen dabei beobachtete Zeiträume von zehn Jahren beziehungsweise 10.000 Stunden, ohne dabei eine tatsächliche Regel aufzustellen.
Durch das Buch „Outliers“ (deutscher Titel: „Überflieger“) des kanadischen Autors Malcolm Gladwell wiederum wurde Ericssons Forschung einem breiten Publikum bekannt. Gladwell begründete hier zwar den Begriff der „10.000-Stunden-Regel“, schrieb jedoch selbst:
The question is: is there such a thing as innate talent? The ovious answer is yes. Not every hockey player born in January ends up playing at the professional level […]. Achievement is talent plus preparation.
– Malcolm Gladwell, Outliers, S. 38
Das heißt, weder Ericsson noch Gladwell leugnen das angeborene Talent respektive eine genetische Veranlagung. Zentral ist dagegen die Aussage, dass man trotz Talent nicht automatisch ein Meister seines Faches ist, sondern vielmehr einer enormen Übung bedarf.
Erst später wurde die 10.000-Stunden-Regel in vielen Boulevardartikel zunehmend verwässert, trivialisiert und auf die Aussage heruntergebrochen, mit 10.000 Stunden Übung würde man mehr oder weniger garantiert zur Weltspitze in seinem Fach gehören. Wenn dem aber wirklich so wäre, dann hätten wir in der 2. Bundesliga erstaunlich viele Cristiano Ronaldos herumlaufen und die meisten Berufsköche müssten vor ihrem 30. Geburtstag einen Michelin-Stern bekommen.
Meines Erachtens nach bietet sich vielmehr ein Vergleich mit einem Computerspiel an. Als Beispiel sei die GTA-Reihe oder typische Online-Rollenspiele wie World of Warcraft genannt. Dort beginnt man das Spiel mit einem Avatar (einem Charakter, den man durch die Spielwelt steuert) auf einem bestimmten Skilllevel und verbessert durch das Erledigen von Aufgaben dieses Level, bis man irgendwann die höchste, von den Spielentwicklern vorgesehene Stufe erreicht.
Dieses Konzept können wir auf das reale Leben übertragen. Man stelle sich vor, für jede Fähigkeit sei uns genetisch ein Startwert, eine maximale Entwicklungsstufe sowie eine individuelle Lerngeschwindigkeit mitgegeben. Was wir aus dieser Veranlagung machen, liegt ganz allein bei uns. Von alleine werden wir keine Superkräfte in einem Bereich entwickeln. Doch auch wenn wir in einem Bereich nicht mit guten Genen gesegnet sind, können wir es zu etwas bringen, wenn wir nur wollen. Denn Ericsson hat in dem oben erwähnten Artikel auch festgestellt, dass unser “Startwert” und unsere “maximale Performance” in einem Bereich keinesfalls korrelieren müssen. 3
Das bedeutet, dass wir auch in Bereichen, in denen wir (anfänglich) keine allzu große Begabung zeigen, durch Übung und Training brillieren können. Oder wie Christopher Sommer, ehemaliger Nationaltrainer des US-Turnkaders, einmal gesagt haben soll: 4
Du kannst nichts für die Karten, die dir das Leben ausgeteilt hat. Du bist aber dafür verantwortlich, dein Blatt optimal zu spielen.
– Christopher Sommer, ehemaliger Nationaltrainer des US-Turnkaders
Die Suche nach den eigenen Exzellenzbereichen
In either case, perceived talent and enjoyment of the activities of a domain are ideal preconditions for initiating the effortful but valuable activity of deliberate practice.
– Ericsson, et al., The role of deliberate practice in the acquisition of expert performance
Obiges führt uns aber zu einem neuen Problem, denn die Suche nach dem “persönlichen Bereich”, in dem es sich für dich lohnt, Energie zu investieren, ist alles andere als einfach. Man könnte eigene Artikel darüber schreiben und ich werde mich zukünftig noch mehr damit beschäftigen.
Aus der (richtig interpretierten) 10.000-Stunden-„Regel“ können wir aber immerhin folgern, dass es in jedem Fall enormer Übung bedarf, um „Exzellenz” zu erreichen. Würden wir rein hypothetisch von einer täglichen Netto-Übungszeit von 5 Stunden ausgehen (und zu viel mehr Übung in der notwendigen Intensität sind wir laut Ericsson auch nicht fähig), dann brauchen wir für 10.000 „vollwertige” Übungsstunden über 7 ½ Jahre – bei immerhin freien Wochenenden, aber ohne Urlaub. Ericsson selbst spricht in seinem Paper ja sogar von etwa 10 Jahren.
Rein logisch gesehen sollten wir uns daher einen Bereich aussuchen, in dem wir uns zu regelmäßiger, täglicher, konzentrierter Übung motivieren können. Bei den meisten wird dies zugleich ein Bereich sein, in dem sie von Anfang an relativ schnell gute Erfolge erzielen, für den sie also ein natürliches „Talent“ zeigen, weil schnelle Erfolge nun einmal am meisten motivieren.
Tim Ferriss schreibt in seinem Buch „Die 4-Stunden-Woche“ dazu:
Betonen Sie Ihre Stärken und versuchen Sie nicht, die Schwächen zu beseitigen. Die meisten Menschen sind in ein paar Dingen richtig gut, doch in vielen anderen Bereichen nicht besonders bewandert. […] Es ist nicht nur lohnender, es macht auch viel mehr Spaß, mit den eigenen Stärken zu arbeiten, anstatt immer wieder zu versuchen, die Schwachstellen aufzupolieren. Der Unterschied besteht darin, dass Sie so die Ergebnisse multiplizieren können und eben nicht nur winzige Verbesserungen oder im besten Fall mittelmäßige Resultate erzielen.
– Tim Ferriss, Die 4-Stunden-Woche, S. 47
Wenn wir im Leben also unsere Karten optimal spielen wollen, sollten wir zunächst einmal alle Karten “anschauen”, die uns ausgeteilt wurden. Das bedeutet, wir sollten uns bewusst auf die Suche begeben und unsere eigenen (verborgenen) Stärken, unser Potential entdecken.
Doch bei der oben dargelegten langen Dauer bis zum Erreichen von Exzellenz ist auch offenbar, dass man vielen Rückschlägen und Motivationslöchern begegnen wird. Sich von diesen nicht abbringen zu lassen, sondern beständig weiter zu üben, ist schlussendlich der Schlüssel zum Erfolg.
Was kannst du aus diesem Artikel mitnehmen?
Am Anfang von Exzellenz steht die Erkenntnis, dass man nie auf seine aktuellen Fähigkeiten beschränkt ist, sondern stets Verbesserungspotenziale nutzen kann und sollte. Talent und Interesse in einem Bereich sind dabei ideale Voraussetzungen um viel und lange in einem Bereich zu üben und auf diese Weise Exzellenz zu erreichen.
1) Solltest du bisher eher ein Typ gewesen sein, der ungern Fehler machte, sich mehr auf das Hier und Jetzt als sein Verbesserungspotenzial fixierte und das Begehen von Fehlern als Versagen ansah, dann bist du nicht allein: Die meisten Menschen neigen heutzutage wohl dazu, ein „fixed mindset“ zu haben.
2) Der erste Schritt von einem fixed mindset zu einem growth mindset wäre, dies überhaupt wahrzunehmen und sich zukünftig zu bemühen, mehr die Chancen zu sehen als nur die Fehler.
3) Durch Training können wir enorm viel erreichen. Auch wenn wir durch Übung nicht einfach in jedem beliebigen Bereich zum Profi werden können, so können wir doch überall Verbesserungen einfahren.
4) Am meisten Erfolg werden wir jedoch haben, wenn wir versuchen in einem Bereich Exzellenz zu erreichen, für den wir ein natürliches „Talent“ haben. Erste Anregungen für die Suche nach einem solchen Bereich findest du oben im Artikel.
Fazit
Ich jedenfalls werde mir von nun an immer, wenn ich der Meinung bin, ich würde etwas nicht schaffen, Ruckis Satz in leicht abgewandelter Form in Erinnerung rufen: „Kannste doch (fast) alles trainieren“. Und sodann erst einmal genau prüfen, ob das Vorhaben wirklich so aussichtslos ist, wie es mir auf den ersten Blick erschien.
Und jetzt zu dir: Welchen Bereich gibt es, den du gerne verbessern möchtest? Wo siehst du eine natürliche Begabung bei dir?
[…] langfristig dein komplettes Bewusstsein dahingehend, dass du mit genügend Durchhaltevermögen (fast) alles im Leben erreichen kannst. Dies war für mich persönlich der wohl größte Benefit aus den letzten 2 Jahren an […]